Die verlorene Taschenuhr-Der Fall der Montgomery Geschwister

Die verlorene Taschenuhr

– Der Fall der Montgomery-Geschwister –

„Nein, ich gehe nicht auf diesen langweiligen Ball. Der ist zum kotzen“, brüllt Maria und schlägt die Tür zu. Jetzt steht sie da, verloren in ihrer Wut und weiß nicht, was sie mit sich anfangen soll. Sie sucht schweifend über ihr Zimmer nach etwas, was sie werfen oder zerreißen kann, als auf einmal ihre kleine Schwester Charlotte herein kommt. „Ach Maria, ich weiß, dass du nichts dafür kannst in einer adeligen Familie geboren zu sein, doch sieh doch mal das Gute darin! Du hast so viel Glück und dir stehen alle Türen offen. Die meisten Menschen haben nicht einmal genug zu essen. Also wenn ich du wäre, würde ich mal anfangen mich damit abzufinden.“, erklärt Charlotte besonnen. „Du bist aber nicht ich und rede nicht so, als wärst du erwachsen, Charlotte!“ und damit war Marias letztes Wort gesprochen. Sie geht zu ihrem Bett und zieht den gelben Vorhang zurück, der perfekt zu ihren goldbraunen Haaren passt. Charlotte war sauer. Und auf keinen anderen als Maria. „Entschuldigung, aber ich wollte dir doch nur helfen“, denkt Charlotte. Sie reißt die Tür auf und sprintet in den Flur, wo das Zimmer von Jan war. Im königsblauen Zimmer ist es still. „Wo kann sich denn so ein 15-jähriger herum treiben“, denkt Charlotte. Sie schaut aus dem Fenster auf die Weiden, den Stall, den See und das große Gartenhaus, in dem sich Henry der zweitjüngste der Montgomery Familie versteckt, wenn ihm das Gestreite von Maria und der Baronin zu viel wird. Und da, ganz weit weg, in den Zwetschgenbäumen, sitzt Jan mit seinen geschwungenen, dunkelbraunen Haaren. ,,Was macht er denn nun schon wieder!“, spottet Charlotte und läuft hinaus, um ihn genau das zu fragen. Sie spürt den Wind in ihren schulterlangen Haaren, als sie die bucklige Wiese hinunter läuft. „Jan,Jaaaaann“, ruft Charlotte, als sie an dem größten und vollsten Pflaumenbaum ankommt. ,,Was machst du?“, fragt Charlotte. ,,Ich schreibe einen Brief für Paulina.“, antwortet Jan. Charlottes Gesicht hat keinen Ausdruck. Sie steht einfach wahllos vor Jan, der abwartet, ob sie noch irgendetwas antwortet. Als Charlotte begreift, was ihr ältester Bruder eben gesagt hatte, fragt sie noch immer etwas verwundert: „Wer ist das denn?.“ Na, das wunderschönste Mädchen der Welt!“, antwortet Jan und zeigt auf ein Mädchen, das gerade die Zwetschgen vom Baum pflückt. Sie ist wirklich wunderschön, mit ihren hellbraunen  Haaren und ihren Sommersprossen, die wie wild durch die Sonne tanzen. Sie ist fast so schön wie Maria. „Und wieso wolltest du mich jetzt sprechen?“, fragt Jan, so als wäre nichts geschehen. Charlotte erzählt ihm alles. Davon, wie Vater Maria das Kleid zeigte, dass sie am heutigen Abend anziehen sollte und wie sie sich wehrend und schreiend in ihr Zimmer verzogen hatte. „Ach, weißt du Charlotte, es gibt einfach Leute, die sind nicht am rechten Platz geboren. Maria wünscht sich nichts sehnlicher, als ein ganz normales Mädchen zu sein und nicht im 19. Jahrhundert zu leben.“ tröstet er sie. „Gott sei Dank“, denkt Charlotte,„Gott sei Dank, habe ich diesen tollen Bruder.“ 

Henry betrachtet sich im Spiegel. Er steht sicher schon seit 15 Minuten hier, doch er kann seine Augen nicht von sich wenden. Noch nie, seit diesen elf Jahren, die er hier auf der Erde lebt, hatte er so einen Anzug an. Er war schwarz, fast so wie jeder Anzug, doch er war alt und altmodisch geschnitten. „Der ist schon seit mindestens 100 Jahren im Besitz der Montgomery Familie“, hatte sein Vater gesagt. Die Vorstellung, dass dieser Anzug schon jeder Junge der Montgomery Familie seit 100 Jahren getragen hatte, bringt Henry zum würgen. Er dreht sich um und geht zur Tür, bevor er wirklich noch anfängt, zu kotzen. Gerade als Henry hinausgeht, kommt auch Jan aus seinem Zimmer. „Schau mal, Henry, was Vater mir gegeben hat!“, sagt Jan aufgeregt zu Henry und zeigt ihm eine goldene Taschenuhr, die in der Sonne funkelt. „Die gehörte anscheinend dem Großvater von Großvaters Vater“, erklärt Jan stolz. „Die ist wunderschön!“ ,bestätigt Henry etwas eifersüchtig und sie gehen zusammen die Wendeltreppe zur Kutsche hinunter. Als die beiden die letzte Stufe hinunter gehen und die Köpfe heben, stockt Ihnen der Atem. So wunderschön hatten die beiden Brüder ihre Schwestern noch nie gesehen. Maria hat ein gelbes wallendes, mit Blumen verziertes  Kleid an und sie hat die Haare mit einem gelben Haarband zu einem Dutt gebunden. Charlotte hat  ihre dunkelbraunen Haare offen und trägt ein auffallendes blaues Prinzessinnenkleid. Als die beiden Brüder wieder zu sich kommen, begleiten Sie den Baron, die Baronin und die beiden wunderschönen Komtessen in die Kutsche.

,,Ha ha ha.“ lachen alle zusammen ein paar Stunden nach dem Ball. Es war toll auf dem Ball gewesen. Alle haben getanzt, gelacht und famos gegessen. „Und? War der Ball besser, als du ihn dir vorgestellt hattest?“, fragt Henry, als sich alle wieder beruhigt haben. „Ja, viel besser.“ ,versichert Maria träumerisch. Sie hatte nämlich auf dem Ball einen Jungen kennengelernt. Herzog Maximilian heißt er und war zwei Jahre älter als Jan „Ja, zumindest, weil da so ein gewisser Herzog war.“, spotten Charlotte und Henry. Maria wurde sofort puterrot. Und Jans Miene verdüstert sich schlagartig. „Findest du nicht, dass der etwas zu alt für dich ist?“ ,fragt Jan düster. „Ach was! Das sind doch nur vier Jahre. Mutter und Vater sind genauso unterschiedlich alt.“ ,meint Maria etwas verwundert über diese Bemerkung. „Naja, eine Dreizehnjährige mit einem Siebzehnjährigen ist etwas anderes als Mutter und Vater.“ ,versichert Jan, „aber wie du meinst.“ Maria verdreht nur die Augen und verschwindet in ihrem Zimmer. Henry tut es ihr gleich, doch Charlotte bleibt stehen und fragt vorwurfsvoll: „Musste das sein?“ und mit diesen Worten geht Charlotte auch in ihr Zimmer und legt sich schlafen.

Morgens ist es so wie immer. Maria steht auf, putzt sich die Zähne, wäscht sich einmal das Gesicht ab, kämmt sich die Haare und bindet sie schließlich zu einem hohen Zopf hoch. Dann geht sie hinunter, schüttet sich eine volle Tasse Tee ein und setzt sich an den mit allerlei Obst, Käse, Brot und Marmelade gedeckten Tisch. So langsam kommen auch Charlotte, die Baronin, Henry und der Baron in die Küche, um sich am reichlich gedeckten Tisch zu bedienen. Jan ist immer der letzte, doch diesmal sieht er nicht wie immer müde und verschlafen aus. Diesmal ist ihm das Entsetzen ins Gesicht geschrieben. Er setzt sich an den Tisch mit bedrücktem Blick, als wäre er gerade nicht auf dieser Welt, sondern irgendwo im Weltall, auf einem unbekannten Planeten. „Was ist los, Sohnemann? Du guckst wie sieben Tage Regenwetter!“ , fragt der Baron schmatzend. Jan stottert: „Vater, die…diese Taschenuhr, die du mir gestern gegeben hast… ist weg.“ Das letzte Wort lag ihm noch in der Kehle. Dem Baron stockte der Atem. Das einzige, was noch aus ihm hinaus kam war:,, Unglaublich… Seit sechs Generationen… Unglaublich…!“  Während er aus der Küche schlürft. Fünf Minuten später sitzen alle Montgomery Geschwister in Jans Zimmer und sehen ihn vorwurfsvoll an. „Wo hast du sie denn nach dem Ball abgelegt?“, fragt Maria zögernd, um die peinliche Stille zu unterbrechen. „Ich weiß es nicht mehr.“, antwortet Jan, „ich war so müde und so erschöpft, dass ich vergaß, dass ich die Taschenuhr  noch trug, oder vielleicht wurde sie mir auch gestohlen, oder sie ist mir runtergefallen. Was soll ich denn jetzt machen?“, erzählt er ganz hektisch. „Keine Ahnung“, flüstert Henry, „doch genau das müssen wir herausfinden.“

Nachmittags fuhren die vier noch einmal zum Schloss Rosenfels, wo der Ball  stattgefunden hatte. Nachdem sie die Treppe hochgegangen sind, stößt  Charlotte geradewegs in einen älteren Jungen der soeben aus der Haustür tritt.  „Oh, Entschuldigung!“, sagt der Junge verlegen. Er hebt den Kopf und mustert die vier Geschwister. Der Junge kratzt sich am Kopf und fragt verdattert: „Kenne ich euch? Ich habe euch noch nie im Schloss Rosenfels gesehen.“ 

„Nein, wir sind auch nicht von hier. Wir kommen vom Montgomery Schloss.“, antwortet Maria prompt. „Ja, wir müssen auch jetzt eigentlich los…!“ sagt Jan mit einem scharfen Blick zu Maria. „Aber, wenn wir doch jetzt schon dieses Gespräch angefangen haben, würde ich es gerne weiterführen!“, unterbricht Maria Jan. Maria überlegt, ob sie diesem Jungen, den sie erst seit 2 Minuten kennt, alles mit der Taschenuhr verraten kann. Oder darf! Sie mustert ihn kurz, während er wartet, ob sie noch irgendetwas sagt. Er hat graue Augen und krauses, rotes Haar. Sein Anzug ist etwas verschmutzt. Deshalb rät Maria, dass er wahrscheinlich Stallbursche oder wegen den roten Flecken Hilfskoch ist. Maria entscheidet sich ihm lieber nicht alles zu erzählen. Sie hat keine Lust, sich Vorwürfe von ihrem älteren Bruder oder  ihrem Vater anzuhören. So würde sie sich das Leben nur noch schwerer machen.  „Meine kleine Schwester Charlotte hat gestern Abend bei dem Ball einen netten kleinen Jungen kennen gelernt. Wir wollen ihn besuchen und müssen daher wissen, wie er heißt und von welchem Schloss er kommt. Deswegen wollten wir fragen, ob ich eine Liste der Gäste haben könnte?“, lügt Maria und ist stolz auf diese erfundene Geschichte, obwohl sie es hasst, Leuten ins Gesicht zu lügen.“, Ja, ich frage sofort den Grafen.“, antwortet der Junge. „Ach ja und übrigens, ich heiße Olli!“ 

Er verschwindet hinter der Haustür, welche mit einer Löwenskulptur aus Marmor versehen ist. Während die vier warten, sehen sie sich draussen um. Dort ist ein riesiger Brunnen, der so viel Krach macht wie Maria und die Baronin wenn sie sich streiten, eine alte Kutsche steht am Rand des Schlosses und eine Parkbank steht auf der Blumenwiese, die herrlich duftet. „Chrm…Chrm…“ ,macht es, als Maria sich die Kutsche genauer ansieht. 

Olli taucht wieder neben Maria auf und sieht sie misstrauisch an.

“Entschuldigung, aber ich interessiere mich wirklich sehr für Pferde und Kutschen.“, lügt Maria mit einem peinlichen Lächeln. „Ist schon gut!“, sagt Olli, „hier ist die Gästeliste! Dann verabschiede ich mich!“, sagt Olli und dreht sich am Absatz um: „Und Charlotte! Ich hoffe ihr findet diesen Jungen.“ Als er Charlotte zuzwinkert  und die Treppe zum Schloss nach oben geht, sieht Maria hinten in seiner Hosentasche eine goldene Taschenuhr. „ Hey, halt stopp!“,ruft Maria, „Er hat die Taschenuhr!“ 

Jan, Henry und Charlotte drehen sich erschrocken um. Olli dreht sich nur kurz um und läuft wieder in das Schloss. Jan sprintet sofort los, und die vier Geschwister rennen hastig hinter ihm her. Oben auf dem Treppenabsatz sieht Henry noch im Augenwinkel, wie Olli prompt und mit einem lauten Knall die Tür hinter sich zuschlägt. Jan ist schon an der Tür angekommen. Er war nur 2 Sekunden zu spät. Charlotte hört ein leises Klicken und dann sacken sie alle enttäuscht in sich zusammen.

Diana, die Zofe von Maria bringt den vieren, die inzwischen gemütlich mit Decken und Kissen in der Stube sitzen, einen heißen dampfenden Kakao. „Danke!“, sagt Henry und nimmt den Kakao entgegen. „Diana, könntest du kurz einmal das Zimmer verlassen? Ich habe meinen Geschwistern etwas mitzuteilen!“, sagt Maria mit einem liebevollen Lächeln. Diana verbeugt sich mit einem leichten Knicks und verlässt mit kleinen Schritten das Zimmer. „Also…“, beginnt Maria, „ihr habt ja alle die Taschenuhr in Ollis Tasche gesehen?“ Alle nicken. „Wir brauchen einen Plan, wie wir wieder ins Schloss kommen. Doch diesmal ohne durch die Vordertür zu gehen.“ Plötzlich kommt die älteste Zofe der Montgomery Familie herein. Sie heisst Bruna und ist letztes Jahr aus Portugal nach Deutschland gezogen. „Ich soll euch von der Baronin ausrichten, dass die Nachtruhe in 5 Minuten beginnt!“, sagt sie mit einem leichten Akzent und sehr streng. Wie immer! Sie stolziert aus dem Zimmer und schließt die Tür. Sofort räumen die Geschwister ihre Sachen aus der Stube, denn mit Bruna ist nicht zu spaßen. Doch bevor Charlotte Henry und Jan nach draußen stürmen, flüstert Maria noch mal: „Morgen, nach dem Frühstück auf Montagne!“

Es ist morgens früh um sieben Uhr, und Henry wandert mit Luna durch den Wald. Normalerweise isst er jetzt mit seiner Familie am großen Tisch und verputzt einen ganzen Teller Pancakes mit Schlagsahne. Doch auf diesen Familienhorror hat er jetzt keine Lust. Er spaziert lieber stundenlang im Wald beobachtet Tiere, kümmert sich um das Hochbeet oder snackt einen halben Haufen Waldbeeren, bis ihm schlecht wird. Luna schnüffelt an einer Heckenrose und legt sich dann stur auf das weiche Moos. Luna ist ein Dalmatiner und Henrys eigene Hündin. Er hat sie sich gewünscht, als er noch ein junger Knabe war.  „Komm, Luna, wir sind bald da. Noch ein kleines Stück.“ Henry versucht Luna dazu zu bringen, aufzustehen. Erschöpft und ein wenig genervt hebt Luna ihre fleckigen Pfoten und ist gezwungen zu gehen. 5 Minuten später kommen die beiden an einer Lichtung an. Vor ihnen steht ein riesiges Baumhaus. Überall hängen Seile, abstehende Nägel, Fenster, die etwas krumm im Holz sitzen und eine wackelige Leiter, die über einer geschwungenen Überschrift hängt  „Montagne“. Henry rüttelt einmal kräftig an der Leiter und setzt dann einen Fuß nach dem anderen auf die morschen Holzsprossen. Oben angekommen lässt er das Feuer aufprasseln und setzt sich in den gemütlichen Sessel, der in der wärmsten Ecke steht. Er will sich gerade die Murmeln aus dem Schrank nehmen, als er ein lautes Knacken hört. Sofort bleibt Henry wie angewurzelt stehen. Es ist so ruhig im Wald, dass er nur seinen eigenen Atem hört, die zwitschernden Vögel und dieses verfluchte Knacken aus dem zweiten Stock, das Henry Bauchschmerzen bereitet. Er zögert, doch er weiß ganz genau, dass er nicht ewig auf diesem verstaubten Sessel sitzen kann. Ganz langsam, dass er auch ja keinen Lärm macht, öffnet er die Luke und schaut wie ein aufgescheuchtes  Murmeltier hoch. Seine schwarzen Haare stehen zu Berge, und seine dunkelbraunen Augen flattern und zucken vor Angst. Vorsichtig klettert er auf das morsche Holz und sucht nach einem Zeichen Leben. Da! Etwas rotes glänzt in der frühen Herbstsonne. Noch immer vorsichtig, macht er einen Schritt nach dem anderen in Richtung Holzschrank „H-H-Hallo?!?“, stottert Henry, ohne auch nur daran zu denken, sich zu bewegen. Hinter dem Schrank regt sich wieder etwas feuerrotes. Ganz langsam kommt ein Mädchen aus ihrem Versteck. Ein Mädchen…?! Ein Mädchen mit bordeauxroten Haaren, grünen Augen und einem verschmitzten, frechen Lächeln. 

Eine Weile später, sitzen das Mädchen und Henry im ersten Stock mit zwei fast leeren Tassen Tee. Es hat sich herausgestellt, dass das Mädchen einen Ausritt machte und eine kleine Rast im Baumhaus machte. Sie heißt Ruby und kommt aus Schottland. Sie erzählt Henry von dem wunderschönen Land, aus dem sie kommt. Ihren Traditionen, Bräuchen und ihrer Kultur. „Oh, nein, ich muss jetzt nach Hause. Tut mir leid.“, seufzt er mit einem Blick auf die Wanduhr. „Wo wohnst du denn?“, will Henry wissen, als er aufsteht um ihren Mantel vom Haken zu nehmen. Wahllos schaut Ruby in verschiedene Richtungen und zeigt zum Schluss durch ein Fenster in Richtung Kornmühle. „Dahinten, ehm… also, ich meine… da ist so ein Dorf… da wohne ich!“ , antwortet Ruby mit ausgestreckten Finger. Henry nickt mit gerunzelter Stirn und lässt die lange Holzleiter zu Boden gleiten. „Tschüss.“ ,sagt Henry „Tschüss“, sagt Ruby etwas bedrückt, würdigt ihn noch eines letzen Blickes und klettert die wackelige Leiter herunter. Henry dreht sich um und entdeckt die graue Strickjacke, die Ruby wahrscheinlich hier vergessen hat. Ohne zu zögern, schnappt sich Henry die Jacke, klettert die Leiter herunter, schreit ihren Namen und schaut in Richtung Kornmühle, da wo Ruby in einem unbekannten Dorf wohnt. Doch Henry entdeckt sie nirgends zwischen den morschen Bäumen. Er dreht sich um und läuft in Richtung Schloss Rosenfels, denn das kann der einzige Weg sein, den Ruby gegangen sein könnte. Der dritte Weg wird von einem umgefallenen Baumstumpf blockiert. Henry läuft und versucht, den Abstand zwischen den beiden Elfjährigen zu verringern da er ganz genau weiß, dass Ruby lügt. Als er an einer Kreuzung ankommt, sieht er ein Schild mit der Aufschrift „Rosenfels“ und 10 m davor entdeckt er ein Rotschopf, der im Herbst Wind friert. Doch, weil er so verwundert über die Lüge von Ruby ist, schleicht er ihr nach. Sie gehen an einer Bank vorbei, die hinter einem Tor, das zum Schloss Rosenfels führt steht. Henry versteckt sich hinter einer verblühten Rosenhecke, während Ruby in Richtung der Hintertür des Schlossen geht und kräftig an das alte Holz klopft. Als die Tür aufgeht und Henry sieht, wer im Türrahmen steht, muss er zweimal hinschauen. Vor Ruby steht ein zweiter Rotschopf und dieser Rotschopf ist Olli! Henry späht noch einmal durch die Dornenäste der Hecke, bevor er sich wieder auf den Weg nach Hause macht.

Henry hat einen Kloss im Hals, während er seinen Geschwistern, alles was er heute herausgefunden hatte, erzählt. Sie staunen und haben alle eine Falte auf der Stirn, außer Charlotte, die sich vergnügt ein Honigbonbon nach dem anderen in den Mund stopft. Es ist aber schon spät und daher beschließen die Geschwister es auf diesem Geschehnis beruhen zu lassen um morgen ausgeschlafen mit den Ermittlungen fortzufahren.

Am Morgen ist es still im Schloss. Sonntags ist nie etwas los und alle schlafen noch, außer Maria. Sie schleicht von Zimmer zu Zimmer und weckt alle Montgomery Kinder um, wie am vorherigen Tag festgelegt, mit dem Fall der verlorenen Taschenuhr fortzufahren. Doch als sie in Charlottes Zimmer geht, um ihre kleine Schwester aus ihrem tiefen Schlaf zu reißen, ist sie nicht in ihrer Decke eingewickelt. Sie steht auch nicht neben dem Schrank um zu entscheiden was sie anziehen soll und an ihrem Schreibtisch sitzt sie auch nicht. „Jan, Henry!!! Charlotte ist nicht in ihrem Bett!“, ruft Maria mit Kreide weißen Gesicht ins ruhige Schloss. „Was?!“ hört sie aus Jans Zimmer und „Wie?!“ aus Henrys Zimmer. Jan und Henry kommen zu Maria und bleiben im Flur. „Na, worauf wartest du?“, fragt Jan mit vorwurfsvollem Blick. Das lässt sich Maria nicht zweimal sagen. Im Handumdrehen zieht Maria ihr weißes Kleid, mit violett bestickten Blumen an und darüber ihr fliederfarbenes Jacket an  und läuft die Wendeltreppe zum Innenhof hinunter, wo ihre beiden Brüder schon auf sie warten. Sie knien an einem Haufen Papierstücken mit der Aufschrift „Honigbonbons“ nieder. Marias Gesichtsausdruck verdüstert sich schlagartig. „Das sind doch die Bonbons, die Charlotte so gerne mag, oder?“, haucht Maria ängstlich. „Glaubt ihr, die hat Charlotte hier verloren… oder… sogar absichtlich liegen lassen?“ Sie schaut zu ihren Brüdern, denen die Angst ins Gesicht geschrieben steht, doch dann sagt Jan, der, wie es scheint, die Hoffnung noch nicht verloren hat: „Wir finden sie schon. Habt keine Angst!“ Mit diesen Worten hat er seinen Geschwistern neuen Mut gegeben, zumindest Henry, denn der stapft energisch in den Stall und sattelt sein Pferd. „Los! Wir wollen sie doch heute noch finden!“, sagt er mit einem aufmunterndem Lächeln im Gesicht.

Mehr als eine Stunde irren Sie im Grünbergwald herum und folgen der Spur aus orangegelben Papierschnipseln mit der Hoffnung, hinter dieser Spur ihre geliebte Schwester zu finden. Als sie etwas später am Hintereingang des Rosenfelsschlosses ankommen, geht Henry ein kleines Licht auf. Doch Henry wirkt auch ein wenig besorgt. „Glaubt ihr Charlotte ist da irgendwo im Schloss?“, fragt Maria die Jungen. Henry schluckt und geht mit gespitzten Ohren durch das matschige Gras zur alten Holztür. „Ich habe euch doch erzählt dass ich gestern Ruby und Olli in dieser Tür verschwinden gesehen habe. Ich glaube die haben nicht nur etwas mit der Taschenuhr zu tun!“, gibt Henry niedergeschlagen zu, denn er mochte diese Ruby wirklich sehr. Ganz langsam öffnet er die Tür und blickt in eine dunkle Kammer, die nur von einem schwachen Licht erhellt wird. „H-Hallo??“, haucht Henry in das eiskalte Zimmer. Aus einer dunklen Ecke hinter einem Weinfass hören sie ein leises Jammern. Die drei Geschwister sprinten dahin wo das Geräusch herkommt, denn sie wissen ganz genau, wer dort ist. Auf dem Boden zusammengekauert sitzt Charlotte mit zugebundenem Mund und nur einem Nachthemd am Leib. Ihre Augen sind kalt und halb geschlossen vor Müdigkeit. „Charlotte!!“, kreischt Maria besorgt und kniet sich zu ihrer kleinen Schwester.  „Warst du das mit dem Papier?“, fragt Henry der sich eher im Hintergrund hält. Wieder gibt Charlotte, ein lautes Jammern von sich. Nach diesem Laut befreit Maria Charlotte von diesem ranzigen Tuch. „Maria, Henry, Jan! Ihr müsst hier raus! Nicht dass Sie euch auch noch kriegen. Sie haben die Taschenuhr von Vater gestohlen!“, fleht Charlotte ihre Geschwister an. „Was – “, versucht, Henry zu sagen. Doch bevor er den Satz zu Ende sagen kann, kommt eine dunkle Gestalt aus der Tür, die die ganze Zeit geschlossen war, und schnappt sich Henry, der neben der Tür stand. Die Geschwister erkennen sofort die roten Haare, die von der Sonne aus dem kleinen Fenster über der Tür beleuchtet werden, und wissen daher genau, wer sich unter den verschmutzten Kleidern im Dunkeln verbirgt. Maria, die noch immer neben Charlotte kniet, sieht außerordentlich misstrauisch aus. Sie weiß ganz genau, wie die Krimi Bücher ausgehen, die sie immer so gern in ihrem Zimmer liest. “Olli bitte, ich weiß, dass du kein Dieb bist und erst recht kein Verräter. Bitte mach jetzt einmal das Richtige.“, fleht Maria mit weichen Augen. Doch Olli schaut Maria nicht einmal an. Er guckt einfach verzweifelt zum Boden und wartet, dass seine Schwester etwas sagt.  „Wieso habt ihr die Taschenuhr gestohlen und meine jüngere Schwester gewaltsam in diese kalte Kammer verschleppt?“ , fragt Jan mutig, ohne Henry anzusehen „Wir kommen aus Schottland und sind arme Bauernkinder, darum sind wir nach Deutschland gekommen, um hier besser leben zu können. Doch das Gehalt reicht nicht. Also mussten wir zwar gehässige, aber immerhin hilfreiche Maßnahmen eingreifen. Und deine elende Schwester brauchen wir, um ein paar Informationen über die Taschenuhr herauszufinden, was wir auch mit etwas Gewalt hinbekommen haben und falls es euch nichts ausmacht, werden ich und mein Bruder, eure geliebte Taschenuhr verkaufen und mit dem Geld Schifffahrkarten nach Amerika kaufen!“, antwortet Ruby kein bisschen mitleidig. „Und ob es uns was ausmacht!“, flüstert Jan und schießt mit der Schleuder, die er diskret aus seiner Jackentasche zieht auf Rubys Brust, so dass sie kreischend zu Boden fällt. Jetzt geht alles ganz schnell. Instinktiv rennt Maria zu Olli und gibt ihm einen Tritt vor das Schienbein und hilft Charlotte wieder auf die Füße. Jan versucht mühsam mit Henry nach draußen zu laufen, dicht gefolgt von der armseeligen Charlotte und der hilfsbereiten Maria. Erschöpft sacken alle Geschwister auf den Boden, während Ruby und Olli hinkend aus der Kammer gelaufen kommen. Doch Jan wundert sich, denn die beiden sehen nicht gerade traurig aus. Eher hinterhältig und heimtückisch. Denn ohne zu zögern, greift Ruby in ihre riesige braune Ledertasche und holt eine kleine Schrotflinte heraus, mit der sie unerbittlich auf Jan zielt, der noch immer die Taschenuhr in seiner zitternden Hand hält. Es ist ganz still im Hof vom Schloss Rosenfels. Man hört nicht einmal den Atem, der unbeholfenen Kinder. Sie haben alle den Atem angehalten. Das einzige, was sie noch tun ist hoffen. Hoffen auf die Rettung, hoffen auf ein gutes Ende. Als hätte jemand ihre Gedanken gelesen kommt eine Kutsche mit drei unterschiedlich großen Menschen auf der Lederbank sitzend, zum Hinterhof gefahren. Es dauert eine Weile, bis sie erkennen wer dort auf sie zugefahren kommt. Doch dann geht Jan das Herz auf. Die unscharfen Gesichter werden immer schärfer und dann erkennt Charlotte ihre Eltern und das Nachbarsmädchen Paulina. Das Hufgetrappel wird immer lauter, bis es vor den Kindern anhält. „Wer auch immer du bist Mädchen, leg die Flinte auf den Boden, die Wachmänner sind schon auf dem Weg!“, droht der Baron mit einem feindseligen Blick. Ruby schaut verachtungsvoll und schmeißt die Waffe vor die Kutsche. ,,Was macht ihr denn hier? Wie habt ihr uns gefunden?“, fragt Charlotte noch immer mit einem Zittern in der Stimme. „Glaubst du wirklich, wir würden es nicht merken, wenn unsere Kinder am helllichten Tag verschwinden? Und wir haben auch gleich Paulina mitgebracht. Sie hat sich so über das Verschwinden von unserem ältesten Sohn interessiert.“, antwortet die Baronin und zwinkert Jan zu. Doch Jan hört seiner Mutter gar nicht richtig zu. Er schaut andauernd zu Paulina. Paulina setzt sich in Bewegung und geht etwas nervös zu Jan. Sie gibt sich einen Ruck, hebt ihre Zehen etwas nach oben, damit sie auf Augenhöhe von Jan ist und gibt ihm einen leichten Kuss auf die Wange. Jan springt auf wie eine Glühbirne, die angemacht wurde. Sofort fängt er an mit staunen als Paulinas zarte Lippen sich von seiner Wange entfernen. „Aber eine Frage habe ich noch, bevor du ins Gefängnis abgeliefert wirst. Wieso bist du in unserem Baumhaus aufgekreuzt, und das anscheinend ganz zufällig? “, fragt Henry Ruby mit strengem Blick. „Aus dem gleichen Grund, wieso ich deine Schwester entführt habe. Um Informationen über deine Taschenuhr zu kriegen.“ , gibt sie zu. Jan ist noch immer im Bann seines Kusses, läuft zu seinen Geschwistern, sammelt sie ein und umarmt sie alle herzlich und verkündet mit einem feierlichen Lachen: „Und jetzt wird gefeiert! Gefeiert, über die wiedergefundene Taschenuhr der Montgomery Familie!,,