Hamburg. Eine Hafenstadt wie jede andere: Sobald du aus dem Hafen oder der Altstadt ins Innere der Stadt gehst, wird es schrecklich laut und es stinkt nach Abgasen. Die letzten Tage hatte Johann in der Elbphilharmonie verbracht. Er hatte sich einen Platz zwischen den Scheinwerfern gesucht und von dort den Noten zugehört, wie sie durch den Saal flogen. Von Beethoven zu Mozart über Chopin und Tchaïkovski, hatte er sich viele Geschichten ausgedacht, die die Musik ihm erzählte.
Es war einfach, dort wo er jetzt war, hinzugelangen. Man musste, nachdem man durch den Haupteingang gegangen war, direkt nach rechts und durch die dritte Tür, auf der Privat stand, gehen. Diese Türen waren irgendwie nie abgeschlossen. Die Sicherheitsbeamten glaubten wohl, eine Aufschrift würde die Menschen davon abhalten, durch eine Tür zu gehen. Ihn nicht.
Da Johann kein Geld besaß, um sich einen der teueren Plätze zu reservieren, war er durch solch eine Tür gegangen. Hinter der Tür hing ein Plan an der Wand, der alle Wege hinter den Kulissen zeigte. So hatte der braunhaarige Junge sich einen der Wege ausgesucht und war durch das Gebäude spaziert, bis er einen guten Platz gefunden hatte. Er war auch oft bis auf die letzte Etage gegangen, um von dort aus den Schiffen zuzusehen, wie sie im Hafen anlegten. So wusste er, dass heute die Lacrima, ein schönes Passagierschiff, nach Oslo abfahren würde. Und genau dieses Schiff würde er nehmen. Als blinder Passagier.
Johann ging lässig über den Hafen und sah sich dabei die Segelschiffe und Luxusjachten an. Er drehte sich um und guckte über die Schulter eines Passanten. Neun Uhr siebenunddreißig. Das Schiff würde in dreiundzwanzig Minuten ablegen. Als er am Stehplatz der Lacrima ankam, stellte er mit Verwunderung fest, dass dort kein Schiff stand. „Entschuldigen Sie, wo steht die Lacrima, das Passagierschiff nach Oslo?“, fragte er einen Mann in orangefarbener Jacke mit der Aufschrift Haburger Hafen. Dieser sah ihn verwundert an und sagte: „Es tut mir leid, Junge, aber die Lacrima hat vor zweiundvierzig Minuten abgelegt.“ Johann sah auf die große Hafenuhr. Mist. Der Passant hatte vergessen seine Uhr umzustellen. So, wenn er jetzt noch nach Norwegen wollte, musste er nun sein Schauspielerkönnen unter Beweis stellen. Seine Miene wurde traurig und er täuschte ein „Aber meine Eltern sind auf dem Schiff!“ vor. „Junge, Junge wie konnte das nur passieren?!“, fragte der Mann angstvoll. „Ich, … ich weiß nicht. Wir hatten hier am Stehplatz das Treffen vereinbart und sie dachten bestimmt, ich wäre schon auf das Schiff gegangen“, sagte Johann stotternd. „Das Schiff kann auf jeden Fall nicht mehr zurückkommen, dafür ist es jetzt schon zu weit weg“, sagte der Mann nachdenklich. „Oh, warte!“, er kramte in seiner Tasche herum und zog ein Ticket heraus. „Hier, dieser Zug fährt nach Oslo. Du musst nur einmal in Göteborg umsteigen. Nimm ihn.“ Der Mann drückte ihm die Fahrkarte in die Hand. „Danke! Danke vielmals!“, sagte Johann mit einem strahlenden Lächeln und lief zum Bahnhof, der eine halbe Stunde vom Hafen entfernt war. Es gab doch gute Menschen auf der Welt!
Johann sah jünger aus als er war. Oft schätzten die Leute ihn auf sechzehn Jahre, aber er war schon neunzehn. Auch, dass er eigentlich obdachlos war, sah man ihm nicht an. Er pflegte sich gut und nahm auch jede Gelegenheit zum Duschen, Essen oder sonstiges an. Er fragte niemanden um etwas, doch er nahm, was er bekam. Er war schon mit achtzehn von zuhause fort, weil er die Welt sehen wollte. So hatte er im letzten Jahr schon viele Sachen erlebt. Im Winter war er nach Süden gereist, nach Spanien und Portugal, doch jetzt im Sommer wollte er Norwegen sehen.
Als er ankam, war der Bahnhof fast leer. Hier und da standen Leute, aber nicht viele. Johann beobachtete schon eine ganze Weile einen Jungen, der weiter weg alleine am Gleisrand stand. Er mochte es Menschen zu beobachten, zu sehen wie sie strahlten, wenn sie von Erinnerungen sprachen, wie sie lachten, wenn sie sich Witze erzählten oder wie abweisend ihre Körpersprache war, wenn sie mit jemandem sprechen mussten, die sie nicht mochten. Es war spannend zu sehen, wie verschieden und doch ähnlich die Menschen kommunizierten in verschiedenen Ländern. Wie faszinant die menschliche Körpersprache doch war. Der Junge war ungefähr so alt wie er, hatte dunkle ungepflegte Locken, die ihm weit ins Gesicht fielen, sein Blick war leer und seine Augen waren die letzen zehn Minuten nicht von einem Fleck geweicht. Johann sah die Narben an seinem Unterarm, als ob er sich verletzt hatte. Doch jetzt hatte er keine Scham mehr sie zu zeigen. Eine Stimme ertönte, die sagte, dass der Zug bald eintreffen würde. Der dunkelhaarige Junge zuckte zusammen und sein Blick wich on dieser einen Stelle ab. Er schaute sich hektisch um und jetzt konnte Johann auch sein Gesicht sehen was, wie er es schon vorgeahnt hatte, voller Angst war. Johann merkte, dass der Junge kein Gepäck bei sich hatte und in den Taschen seiner kurzen Hose konnte sich kein Handy befinden. Instinktiv ging er auf ihn zu. „Glaubst du es sei eine gute Idee, hier und jetzt dein Leben zu beenden?“ Erschrocken drehte der Junge sich um, sodass seine Locken durch die Luft flogen. „Was meinst du?“ Ein schlechter Lügner war er auch. „Wenn du dich jetzt hier vor den Zug wirfst, dann werden die Menschen, die es sehen, vielleicht ein Trauma davontragen und der Lokführer würde dann niemals mehr fahren wollen“, sprach Johann weiter, ohne die Frage des Jungen zu beantworten. „Wer bist du? Was willst du?“ sagte er mit der gleichen Angst in seiner Stimme. „Johann, auch gerne Jo. Ich will nach Oslo, um dort die Welt weiter zu erkunden.“ Der ängstliche Junge schien sich zu beruhigen und er sah nach unten. Da erblickte er die Fahrkarte. „Lügner! Du bist nicht Johann! Du bist irgendein Bertrand Van Wolf!“, schrie er ihn mit der gleichen ängstlichen Stimme an. „Ach, so hieß der nette Herr? Ich hatte mir einen Namen wie Mathias oder so vorgestellt. Etwas naiv war er. Es tut mir schon leid um sein Geld. Aber so ist nunmal das Reisen ohne Geld: Du musst gut im Verstecken spielen sein und ein guter Schauspieler. Aber ich bin kein Dieb“, sagte Jo mit ruhiger Stimme. Es würde nichts bringen den fremden Jungen anzuschreien. Dann fragte der dunkelhaarige Junge, ob er von zuhause weggelaufen war. Der Junge sah ihn an und jetzt trafen sich ihre Blicke. Seine Augen waren dunkelblau wie das Meer, aber voller Trauer. So gut er sich auch bemühte, ein Lächeln aufzusetzen, die Augen lügen nie… „Nein, ganz im Gegenteil. Sie haben mich gehen lassen. Meine Eltern haben darauf bestanden, dass ich Geld mitnehme. Aber ich wollte die Welt erkunden, ohne Geldsorgen. Also habe ich das Geld den ersten Obdachlosen gegeben, denen ich begegnet bin“, sagte Johann träumerisch. „Wirklich? Und wo warst du schon?“, erkundigte sich der Junge. „Amsterdam, Salzburg, Paris, Madrid aber am liebsten besuche ich kleine Dörfer, deren Namen ich aber nicht mehr weiß.“ „Wow. Und wo schläfst du?“, hakte der andere nach. „Es hängt ganz davon ab, wo ich gerade bin. Als ich in Paris war, war es Sommer und ich habe es mir auf dem Triumphbogen gemütlich gemacht und bei Nacht den Lichtern des Eiffelturms zugesehen. Gestern habe ich noch in der Elbphilharmonie übernachtet und morgen werde ich vielleicht schon in Oslo schlafen.“ Von weitem konnte Johann schon den Zug hören. „Du kannst mit mir kommen, wenn du willst.“ Jo streckte ihm seine Hand hin. Der Junge sah sie lange an. Dann schweifte sein Blick zum Zug, der immer näher kam … Dann runter auf die Gleisen … Er hob die Nase in den Wind und ließ ihn mit seinen Haaren spielen. Der Zug fuhr nun in den Bahnhof rein und blieb vor ihnen stehen. „Warte, ich habe keine Sachen dabei“, sagte er, und etwas hatte sich in seinen Augen verändert. „Ich auch nicht. Ich möchte lieber frei sein.“